Brief an Vidar – #1

Hey mein Bester,

Du hast recht gehabt. Ich habe viel über Deine Worte nachgedacht und auch, wenn ich mir lange unschlüssig war, ob ich Dein Angebot annehmen soll, komme ich zu dem Ergebnis, dass ich gar keine Alternative zu haben scheine. Und obwohl ich mir fest vorgenommen habe, zukünftig vorsichtiger zu sein, wem gegenüber ich was äußere, aus Angst, dass es nur ein weiteres Mal gegen mich selbst verwendet wird, würden mich meine Sorgen nur zerfressen, bäte ich ihnen kein Ventil, um entweichen zu können. Sei Dir sicher, dass Du Dich dazu bereit erklärst, mir dieses Ventil zu bieten, weiß ich zu äußerst schätzen!
Nun ist es schon so, dass ich mir meines persönlichen Aufwärtstrends bewusst bin, der die letzten Monate über stattgefunden hat. Doch wie gesagt, Du hast recht. Es wird nicht immer nur bergauf gehen können. Egal, wie hart ich an mir arbeite und egal, wie sehr ich heile. Die von meinen persönlichen Abgründen geprägte Vergangenheit hat unter Umständen die Macht, mich wieder ganz nach unten zu ziehen. Und genau deshalb ist ein Ventil so unfassbar wichtig. Es ist notwendig, denn wenn nicht auch die negativen Gedanken und Erlebnisse geäußert werden dürfen, um sie verarbeiten zu können, werden sie schlussendlich den Nährboden für die inneren Dämonen bilden. Wir dürfen nur nie vergessen, dass das Licht heller scheint, als die Dunkelheit. Was ein Kitsch! Auch wenn es wahr ist, aber weise Sätze allein haben uns noch nie weiter gebracht. Wie auch immer …
Als wir uns bei unserem letzten Treffen gemeinsam an eines unser einprägsamsten Gespräche erinnerten, fragtest Du, ob ich denn nun glücklich sei. Auch wenn es naheliegend schien, mein Schweigen als ein Nein interpretieren zu können, ist die tatsächliche Antwort darauf nicht so einfach. Ich denke wir wollen gar nicht immer glücklich sein. Lass es uns glücklich, zufrieden oder unbeschwert nennen, am Ende kommt es aufs Gleiche hinaus. Damit will ich nicht behaupten, dass alle es gleichermaßen vorziehen wehleidig zu sein. Selbstverständlich gibt es eher positive sowie eher negative Menschen. Aber wie oft liegt die Entscheidung ganz bei uns, ob wir in einem gewissen Moment etwas tun möchten, von dem wir wissen, dass es uns gut tut und glücklich macht, wir uns aber bewusst dagegen entscheiden. Wie oft entscheiden sich Menschen gegen einen Samstagabend im Theater und für den Abend in der Bar oder der Kneipe, in der sie wieder einmal viel zu viel trinken. Wie oft gegen den sonntäglichen Spaziergang, bei dem sie das am Tag zuvor aufgeführte Theaterstück verarbeiten, aber für den gefühlt verschwendeten Sonntag auf der Couch, weil durch den vorhergegangenen Exzess die Kraft und Motivation fehlt, das Haus zu verlassen. Und deshalb entscheiden sie sich im gleichen Zuge gegen eine gesunde Malzeit, die sie selbst frisch zubereiten, weil ein perfekter Sonntag gut dazu genutzt werden kann, bewusst etwas Gutes für sich zutun. Aber sie entscheiden sich für die viel bequemere andere Option sich überteuertes, viel zu fettiges Essen zu bestellen, was sie sich nur noch schlechter fühlen lässt. Ich weiß, dass das gerade etwas herablassend klingen könnte. Ich will damit auch nicht sagen, dass nicht auch diese Entscheidungen menschlich sind. Aber glaubst Du nicht, dass das dann doch ganz klar dafür spricht, dass wir eben bewusst nicht immer glücklich sein wollen? Ich glaube, dass wir manchmal unseren eigenen Gehirnen nicht trauen dürfen, denn von rationalen Entscheidungen sind wir nicht selten meilenweit entfernt. Und anstatt sich dem, meinem Argument nach, hinlänglichen Versuch hinzugeben, lediglich nach dem Glück streben zu wollen, sollten wir vielleicht mehr danach streben im Stande zu sein, auch unsere dümmsten Entscheidungen akzeptieren zu können und nicht jede Kleinigkeit so nah an uns heranzulassen.
Aber ich weiß, was Du meintest. Ob ich glücklich mit meinem derzeitigen Leben bin. Ich weiß es nicht. Du kennst mich. Ich habe immer mit einem ungewöhnlichen Leben geliebäugelt. Nichts extremes, wie etwa mich selbst immer wieder aufs Neue herausfordern zu müssen, wie weit ich morgen für einen gewissen Kick gehen würde. Um ehrlich zu sein, bin ich äußerst froh darüber, dass ich kein Verlangen nach einem solchen Lifestyle verspüre, denn bei meinen zwei linken Füßen sähe ich mein Leben wohl schneller an mir vorbeiziehen, als mir lieb wäre. Irgendwie ironisch. Aber ungewöhnlich in dem Sinne, dass es, gemessen an der absoluten Mehrheit, ein Leben wäre, was nur wenige als ihres bezeichnen könnten. Heute hier, morgen dort und jeder weiß zu schätzen, wenn ich mich vor Ort begäbe, auch wenn sie mich in Wahrheit kein bisschen persönlich kennen würden. Vielleicht wäre das auch besser so, denn dann ließe sich ein gewisser Schein definitiv einfacher vortäuschen. Gleichzeitig wüssten die Menschen mich für das zu schätzen, was mich am meisten interessiert. Je mehr ich gerade darüber nachdenke, umso mehr vermisse ich meine Entschlossenheit, nach diesem Leben zu streben. Versteh mich nicht falsch, ich will nicht so klingen, als wäre ich undankbar für das, was ich nun habe, denn weder ist es schlecht, einen geregelten Alltag zu haben und seine gesamte Zeit planen zu können, noch spüre ich einen kaum auszuhaltenden Drang nach mehr Spontaneität. Aber selbstverständlich schwingt nun das Gefühl mit, dass die Tür, die Zugang zu dem Leben schaffte, in dem ich mein wahres Ich zum Ausdruck hätte bringen können, endgültig verschlossen ist. Ein Leben, in dem es möglich gewesen wäre, den Menschen zu zeigen, dass ich ein toller Mensch bin.
Das soll es bis hierhin erstmal gewesen sein. Ich mag es ja selbst nicht, wenn ich mit einer viel zu lang gewordenen Nachricht gefühlt erschlagen werde, weil mir allein der Gedanke daran, auf all die angesprochenen Punkte eingehen zu müssen, zu viel Kraft raubt. Ich warte auf Deine Antwort.

Alles Gute!

VERPASSE KEINEN
BEITRAG MEHR!

Jetzt kostenlos abonnieren und keinen neuen Beitrag mehr verpassen.

Ich sende keinen Spam! Erfahre mehr in meiner Datenschutzerklärung.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen